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Gespannt steht sie auf der Terrasse, hinter ihr die endlos scheinende Fläche des Mittelmeeres, das blaue Nichts. Er beobachtet sie, unbeweglich steht sie da, als ob sie es wüsste, als ob sie seine Gegenwart spüren würde. Nicht meh lange, sagt er sich, nicht mehr lange, dann wird auch dieser Job vorbei sein, diese endlos langen Stunden auf der Lauer, diese Angst, die Beute entwischen zu lassen, er weiß, in absehbarer Zeit wird er wieder frei sein, nicht mehr ständig diese Angst mit sich herumtragen, diese Angst vor sich selbst, vor seiner eigenen Ohnmacht. Sie ist so wunderschön, alleine auf dieser Terrasse, alleine mit den Bergen, mit dem Meer, mit ihm. Bald gehört sie ihm. Ihm ganz allein, für immer. Er spürt die Aufregung in sich hochsteigen, bemerkt das Zittern seiner schweißnassen Hände, den Drang, es zu tun, nicht mehr zu warten, immer dieses Warten, dies kostbare Zeit zwischen den Fingern zerrinnen lassen. Er liebt die Jagd, die unmittelbare, letzte Phase der Verfolgung, wenn das Beutetier, behindert durch die Angst, die Panik, wild herumrennt, sich selbst in seiner Falle verstrickt und elendig zu Grunde geht. Er hat immer gerne gejagt, doch er hat etwas anderes gesucht, den Nervenkitzel, auch, vor allem aber die Panik in den Augen der Beute, diese letzte, finale Todesangst, dieses Wissen um die Ausweglosigkeit der eigenen Situation, dieses trotzige Kämpfen um das eigene Leben. All das hat ihn immer fasziniert. Er beginnt, sich an die letzte Jagd zu erinnern, um seine Nerven zu beruhigen und so merkt er nicht, dass er nicht mehr alleine ist im Wald, er merkt auch nicht, dass das Netz immer fester zugezogen wird und die Falle schließlich zuschnapt. Erst das nahe Geräusch einer Pistole bringt ihn zurück in die Wirklichkeit, ins Jetzt, lässt ihn erkennen, dass er einmal zu oft alles riskiert hat. Doch er wird nicht aufgeben, er wird rennen, um sein Leben, rennen, wie seine Beute rannte, rennen, rennen, rennen. er kommt nicht weit, ein glatter Kopfschuss lässt ihn zusammensacken, hart schlägt er auf einem Baumstumpf auf, zuckt noch ein letztes Mal mit den Lidern und schließt für immer seine Augen.
Ich fand es immer faszinierend, zu verstehen, warum jemand tötet, warum jemand ein gewisses Schema vornimmt, bei seinen Morden, warum jemand sich gezwungen fühlt, Leben auszulöschen.
"Immer muss ich durch die Straßen gehen und immer spür ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber! Manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe! Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! Muss, muss den Weg gehen, den es mich jagt! Muss rennen! Und mit mir rennen die Gespenster von Müttern, Kindern. Die geh'n nie mehr weg. Die sind immer da! Nur nicht, wenn ich's tue. Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe. Das habe ich getan? Aber davon weiß ich doch gar nichts! [...] Will nicht! Muss! Will nicht! Muss!"
["M - Eine Stadt sucht einen Mörder"]
vive_la_musique - 6. Jun, 17:41