- Anissa -
- Anissa -
Alles ist weiß. Klinisches, kaltes, abweisendes Weiß. Was mache ich nur hier? Warum sehe ich niemanden? Ich kann sie hören, viele bekannte, unbekannte Stimmen. Aber wo sind sie? Ich sehe nur das Weiß, es gefällt mir sogar.
Diese paradiesische Ruhe. Nach den Ereignissen der letzten Tage genau das Richtige. Wenn es nur nicht so hell wäre! Man kann sich ja nicht einmal irgendwo hinlegen, alles ist eine einzige weiße Fläche, nirgends ein Ort zum Ausruhen. Aber warum auch? Warum möchte ich mich eigentlich ausruhen? Ich spüre keine Müdigkeit mehr, was ist denn nur auf einmal mit meinem Körper los?! Da! Ein Punkt irgendwo am Horizont. Langsam, nur nichts überstürzen, wer weiß, was es ist. Aber der Punkt kommt nicht näher. Er wird nicht größer, fast so, als mache er sich über mich lustig. Und warum gibt es hier niemanden außer der weißen Fläche, dem Punkt und mir?
Ehrlich, ich weiß nichts mehr, ich kann mich nur noch an den Film erinnern, den Film, der vor mir abgelaufen ist. Bis zum Filmriss. Alles ging durcheinander. Man sagt, wenn du stirbst, läuft dein ganzes Leben vor deinem inneren Auge ab. Ich habe nicht mein Leben gesehen, doch, eigentlich schon meines, aber nicht nur mein bisheriges. Ich habe mich mit meinen Enkeln im Garten sitzen gesehen, mit meinen Kindern im Urlaub am Meer, meinen Rauswurf aus der Firma, Dinge, die nie passiert sind, Dinge, die vermutlich nie geschehen werden, wenn ich wirklich tot bin. Aber bin ich das wirklich? Es wäre doch die reinste Verschwendung, mir Teile meines unfertigen Lebens zu zeigen, die ich nie erleben werde.
Und überhaupt, wie kannst du mir so etwas nur antun? Du kannst mir nicht Dinge zeigen, die ich nie erleben werde, du kannst mich nicht foltern und strafen für etwas, das nicht meine Schuld war! Bitte Gott, denk von mir, was du willst, aber ich will wissen, ob das alles war. 20 mickrige Jahre und den Bonus von 3 Monaten. Das kann es doch nicht gewesen sein! Nein! Ich werde nicht auf den Punkt zugehen! Nein, ich werde nicht das tun, was ich instinktiv am liebsten tun würde. Nein! Nein! Nein! Muss ich jetzt im Ernst dafür bezahlen, dass zur falschen Zeit an der falschen Straßenecke gestanden bin? Muss ich jetzt ewig in dieser weißen Wüste bleiben? Bitte sag mir, dass es nicht so ist, bitte sag mir, alles wird wieder gut, es ist nur ein böser Traum, du wirst aufwachen, einen Kaffee trinken und dich an nichts mehr erinnern. Bitte sag mir, dass ich mit meinen Enkelkindern im Garten sitzen werde, meinen toten Hund beweine, meine beste Freundin verliere, Urlaub am Meer mache. Lass mich nicht im Stich! Nicht jetzt! Nicht, nachdem ich die meine Zukunft gesehen habe! Bitte.
„Anissa, wach auf, mein Kleines. Gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst, ein Zeichen, dass du noch nicht völlig weggegangen bist. Komm zurück. Bitte.“
Wie ich es damals geschfft habe, zurückzukommen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht meine Bestimmung war, zu sterben. Ich hatte noch einen ganzen Filmstreifen zur Verfügung.
[Diesen Monolog habe ich für jemanden aufgeschrieben, der mir seine Geschichte erzählt hat. Eine Geschichte, die nicht immer schön war, mich aber im Innersten berührt hat. Ich hoffe, es wird dieser Person gerecht.]
vive_la_musique - 9. Mai, 13:11