Lackenbach
Dann fang ich auch gleich damit an, eins meiner literarischen Meisterwerke in die Welt zu werfen.
Sie hat es geschafft. In der Ferne liegen noch die verhassten Gebäude im Frühnebel dieses kalten Novembermorgens. Hinter ihr: drei Jahre sinnlosen Leidens, zwei tote Kinder und unzählige körperliche und seelische Narben. Vor ihr: eine bessere Zukunft? Sie wird es schaffen, sie wiederholt es immer und immer wieder, dieses Mantra, das sie die letzten drei Jahre am Leben erhalten hat: „Ich schaffe es, ich schaffe es“ mit der Hoffnung, dass der Schmerz irgendwann einmal nachlässt. Sie weiß, sie würde noch einmal drei Jahre durchhalten, wenn sie nur ihre Kinder wieder lebend zurückhaben könnte, sie würde bis zum Jüngsten Gericht im Lager schuften.
Duška war doch erst zwei Jahre alt gewesen. Zwei Jahre! Eiskalt vergast im Lager von Männern und Frauen, die am Ende des Tages heimkehren konnten zu ihrer eigenen Familie und welche untertags unzählige Familien willkürlich auseinander rissen. Janoš war acht Jahre alt geworden, seine angsterfüllten Augen hatten ihr verraten, dass er genau wusste, was passieren würde, diese dunkle Vorahnung in den weitaufgerissenen Kinderaugen hatten ihr das Herz zerrissen, in tausende kleine Fetzen, die niemals wieder aneinandergefügt werden. Damals hatte sie aufgehört zu existieren. Sie wurde zur Nummer 5975. Innerlich war sie in dem Moment gestorben, als man ihr die Kinder entrissen hatte, mit dem letzten Blick Janoš’, mit den ausweichenden Blicken auf ihre Fragen nach den Kindern.
Ihr Gang wird schwerer, jeder Schritt ist eine Qual und trotzdem wird sie immer schneller, versucht, den Bildern in ihrem Kopf zu entkommen, Bilder aus glücklicheren Zeiten, damals, vor der Erschießung ihres Mannes in einem kleinen Steinbruch, zusammen mit 20 anderen Männern, warum, das weiß sie nicht. Damals, bevor die Deutschen kamen und ihre Älteste vergewaltigten, vor den Augen des ganzen Dorfes, die Jungmänner johlten, feuerten die Soldaten noch an „zeigt der Zigeunerbraut wo’s langgeht!“, sie hört die Stimmen immer noch, als ob es gestern wäre. Sie rennt durch die gefrorenen Felder, um den Erinnerungen zu entfliehen, doch sie holen sie immer wieder ein, treffen sie mit enormer Wucht, drücken sie gegen den Boden, sie steht auf, kämpft sich weiter durch die karge Landschaft, fällt wieder, rappelt sich wieder auf, sieht den leblosen Ausdruck ihrer Großen vor sich, das weiße Gesicht, das strähnige schwarze Haar über den starren, toten Augen, die Blutlache, in der ihr schmaler Körper lag, sie rennt und rennt, die Tränen fließen über ihre ausgemergelten Backenknochen, sie kann nicht mehr.
Sie legt sich unter einen Baum, versucht, sich aufzuraffen für die nächste Wegstrecke, der nächste Ort konnte nicht mehr weit sein, aber was dann? Man wird sie erkennen, das weiß sie, jeder hier in der Gegend kennt das Lager, sie ist ausgemergelt, trägt zerrissene, zerfetzte Kleidung und spricht einen anderen Dialekt als die einheimische Bevölkerung. Man wird sie zurückbringen ins Lager, wo sie im besten Fall weiterschuften „darf“, oder man lyncht sie gleich auf dem Dorfplatz, vor der jubelnden Menge. Sie schafft es nicht mehr, aufzustehen, ihre Beine tragen sie nicht mehr, sie ist total geschwächt, im Fieberwahn spricht sie mit ihren Kindern, mit ihrem Mann, erzählt sich selbst Geschichten aus schönen Tagen, als sie ihren Mann kennen lernte, ein Musiker auf dem Jahrmarkt, ein Mann mit schönen, feinen Händen, unfähig, zu töten oder gewalttätig zu werden. Das letzte, was sie sieht, ist ihre Familie am letzten gemeinsamen Weihnachtsabend, dann schließt sie vor Erschöpfung ihre Augen. Für immer.
Am Morgen des 30.Novembers findet Adalbert Maurer auf dem Weg ins Lager zur „Arbeit“ eine etwa 35 Jahre alte Lagerinsassin tot auf der Strecke zwischen Lackenbach und Haschendorf.
Claire Benque
Sie hat es geschafft. In der Ferne liegen noch die verhassten Gebäude im Frühnebel dieses kalten Novembermorgens. Hinter ihr: drei Jahre sinnlosen Leidens, zwei tote Kinder und unzählige körperliche und seelische Narben. Vor ihr: eine bessere Zukunft? Sie wird es schaffen, sie wiederholt es immer und immer wieder, dieses Mantra, das sie die letzten drei Jahre am Leben erhalten hat: „Ich schaffe es, ich schaffe es“ mit der Hoffnung, dass der Schmerz irgendwann einmal nachlässt. Sie weiß, sie würde noch einmal drei Jahre durchhalten, wenn sie nur ihre Kinder wieder lebend zurückhaben könnte, sie würde bis zum Jüngsten Gericht im Lager schuften.
Duška war doch erst zwei Jahre alt gewesen. Zwei Jahre! Eiskalt vergast im Lager von Männern und Frauen, die am Ende des Tages heimkehren konnten zu ihrer eigenen Familie und welche untertags unzählige Familien willkürlich auseinander rissen. Janoš war acht Jahre alt geworden, seine angsterfüllten Augen hatten ihr verraten, dass er genau wusste, was passieren würde, diese dunkle Vorahnung in den weitaufgerissenen Kinderaugen hatten ihr das Herz zerrissen, in tausende kleine Fetzen, die niemals wieder aneinandergefügt werden. Damals hatte sie aufgehört zu existieren. Sie wurde zur Nummer 5975. Innerlich war sie in dem Moment gestorben, als man ihr die Kinder entrissen hatte, mit dem letzten Blick Janoš’, mit den ausweichenden Blicken auf ihre Fragen nach den Kindern.
Ihr Gang wird schwerer, jeder Schritt ist eine Qual und trotzdem wird sie immer schneller, versucht, den Bildern in ihrem Kopf zu entkommen, Bilder aus glücklicheren Zeiten, damals, vor der Erschießung ihres Mannes in einem kleinen Steinbruch, zusammen mit 20 anderen Männern, warum, das weiß sie nicht. Damals, bevor die Deutschen kamen und ihre Älteste vergewaltigten, vor den Augen des ganzen Dorfes, die Jungmänner johlten, feuerten die Soldaten noch an „zeigt der Zigeunerbraut wo’s langgeht!“, sie hört die Stimmen immer noch, als ob es gestern wäre. Sie rennt durch die gefrorenen Felder, um den Erinnerungen zu entfliehen, doch sie holen sie immer wieder ein, treffen sie mit enormer Wucht, drücken sie gegen den Boden, sie steht auf, kämpft sich weiter durch die karge Landschaft, fällt wieder, rappelt sich wieder auf, sieht den leblosen Ausdruck ihrer Großen vor sich, das weiße Gesicht, das strähnige schwarze Haar über den starren, toten Augen, die Blutlache, in der ihr schmaler Körper lag, sie rennt und rennt, die Tränen fließen über ihre ausgemergelten Backenknochen, sie kann nicht mehr.
Sie legt sich unter einen Baum, versucht, sich aufzuraffen für die nächste Wegstrecke, der nächste Ort konnte nicht mehr weit sein, aber was dann? Man wird sie erkennen, das weiß sie, jeder hier in der Gegend kennt das Lager, sie ist ausgemergelt, trägt zerrissene, zerfetzte Kleidung und spricht einen anderen Dialekt als die einheimische Bevölkerung. Man wird sie zurückbringen ins Lager, wo sie im besten Fall weiterschuften „darf“, oder man lyncht sie gleich auf dem Dorfplatz, vor der jubelnden Menge. Sie schafft es nicht mehr, aufzustehen, ihre Beine tragen sie nicht mehr, sie ist total geschwächt, im Fieberwahn spricht sie mit ihren Kindern, mit ihrem Mann, erzählt sich selbst Geschichten aus schönen Tagen, als sie ihren Mann kennen lernte, ein Musiker auf dem Jahrmarkt, ein Mann mit schönen, feinen Händen, unfähig, zu töten oder gewalttätig zu werden. Das letzte, was sie sieht, ist ihre Familie am letzten gemeinsamen Weihnachtsabend, dann schließt sie vor Erschöpfung ihre Augen. Für immer.
Am Morgen des 30.Novembers findet Adalbert Maurer auf dem Weg ins Lager zur „Arbeit“ eine etwa 35 Jahre alte Lagerinsassin tot auf der Strecke zwischen Lackenbach und Haschendorf.
Claire Benque
vive_la_musique - 8. Mai, 19:57