Dienstag, 6. Juni 2006

Allons enfants de la patrie ?

Hier ein Text, den ich schon vergangenen Herbst geschrieben habe, aufgrund der Krawalle in Paris und anderen französischen Großstädten. [Ich entschuldige mich schon im Voraus für die geschwollene Fromulierung].

Brennende Autos, randalierende Jugendbanden, Terror und Gewalt: Frankreich ist in letzter Zeit hauptsächlich in den Negativschlagzeilen zu finden. Doch warum hat das bis dato so hochgepriesene Integrationsmodell der „Grande Nation“ so deutlich versagt? Ist nun das gesamte System zu verurteilen, dieses System, das fast 40 Jahre lang mehr oder weniger funktioniert hat? Oder war es vielleicht doch keine so gute Idee der rechts-konservativen Regierung unter Präsident Jacques Chirac, die lokalen Polizeikräfte in den „Banlieues“ drastisch zu reduzieren und die Sozialeinrichtungen zu kürzen? Wer ist schuld am Ausbruch der Gewalt, an diesen blindwütigen Racheakten Jugendlicher, die keine Chance haben aufgrund ihres Namens und ihrer Herkunft, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen? Hat nicht auch die französische Bevölkerung Mitschuld an den Krawallen der Jugendlichen, die, obwohl auf dem Papier Franzosen, immer noch aufgrund ihrer Hautfarbe als „Araber“ stigmatisiert werden?

Um jedoch das „französische Problem“ zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen. Zurück in die Epoche, als Frankreich noch Kolonialmacht war und, ähnlich wie im Einflussbereich des Vereinigten Königreiches, kamen „Kolonialisierte“, vor allem aus Nord- und Zentralafrika, ins Mutterland. Damals jedoch hielt sich die Zuwanderung noch in Grenzen. Mit der Entkolonialisierung wuchs der Immigranten- und Zuwandererstrom allmählich immer stärker an und erreichte schließlich seinen Höhepunkt im Laufe des Algerienkrieges von 1954 bis 1962. Algerien war damals die letzte Kolonie Frankreichs. Viele Algerier flüchteten vor dem blutigsten aller Kolonialkriege ins Mutterland. Damals nahm man sie noch mit offenen Armen auf, man brauchte die Arbeitskraft. Gesellschaftlich angesehen waren sie jedoch damals schon nicht, sie wurden diskriminiert und in eigenen „Satellitenstädten“, vor allem rund um die Hauptstadt, angesiedelt. Dort lebten und leben sie, mittlerweile in zweiter und dritter Generation, heute noch in Gebäuden, die nicht einmal als Substandard durchgehen würden, abfällig „Dortoirs“ („Schlafsäle“) genannt. Kein „echter“ Franzose würde sich dazu herablassen, in einem dieser Gebäude zu „hausen“, geschweige denn, in einem „arabischen“ Viertel zu leben. Diese bieten natürlich durch die fortschreitende Gettoisierung einen idealen Nährboden für radikale Gruppen, vor allem für fundamentalistische islamische Hassprediger, die in all dem Elend vor allem bei der orientierungslosen Jugend offene Türen einrennen. Denn es sind nicht diejenigen, die einst alles zurücklassen mussten, die sich wieder an das klammern, was endgültig hinter ihnen liegt. Nein, es sind ihre Kinder und Kindeskinder, die von der französischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden und sich dadurch von den Versprechungen mancher Gruppierungen verführen lassen. Wer keine Hoffnung auf Akzeptanz hat, rutscht leicht ins Radikale ab, sucht nach Wurzeln, die nicht die seinen sind, besinnt sich auf Werte, die seine Vorgänger hinter sich ließen mit dem Ziel, neu anzufangen.

Doch finden sie dabei wirklich zu den verlorenen Wurzeln ihrer Ahnen zurück? Kann man die Lebensweise eines nomadischen Wüstenvolkes, einer Jahrtausende alten Stammeskultur ohne Hinterfragung in einen völlig anderen Kontext verpflanzen? Kann man die Gesellschaft, in der man lebt, von deren Sozialsystem man ja auch profitiert, verteufeln und verdammen, aufgrund des unkritischen Herangehens an Mohammeds Lehren, die in einer anderen Zeit, in einer anderen Situation entstanden sind? Und dies ist jetzt nicht mehr nur ein Problem der „Grande Nation“, sondern dieses Pulverfass ist auch in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Niederlanden, Spanien explodiert.

Die Frage muss also nicht mehr lauten: „Wie konnte so etwas passieren?“, sondern „Was können wir (in den westlichen Industrieländern) präventiv tun, um Einwanderer nicht aus der Gesellschaft zu verstoßen?“. Wie können wir zulassen, dass circa drei Millionen Franzosen mit Wurzeln im Maghreb noch immer nicht als vollwertige Franzosen gelten, wenn sie nicht Zinedine Zidane oder Azouz Begag heißen? Warum müssen wir die Probleme der Integration so lange unter den Teppich kehren, bis die Situation eskaliert? Warum müssen wir diese Probleme tabuisieren, frei nach dem Motto: Solange man nicht darüber spricht, gibt es kein Problem? Warum kann man die Zuwanderung, die Immigration nicht von dem Mantel des peinlich bedrückten Schweigens, das sie umgibt, befreien enttabuisieren?

Das Problem liegt in der französischen Grundeinstellung gegenüber allem Fremden. Traditionellerweise ist ein Großteil der französischen Bevölkerung, teils mehr, teils weniger rassistisch. Bei einer Zuwandererpopulation von circa 4 Millionen Menschen auf eine Gesamtbevölkerung von 60 Millionen Franzosen stellt dies natürlich ein großes Problem dar. Die Gewaltspirale beginnt sich langsam aber stetig zu drehen, die Gewaltbereitschaft erhöht sich, die Gruppierungen werden radikaler. Auf beiden Seiten. Die einzige Möglichkeit, diese „Bombe“ zu entschärfen wäre, die Radikalisierung zu stoppen, indem die Regierung die Banlieues durch Subventionen zu „integrierten“ Stadtteilen „macht“, zum Beispiel durch Sport- und Kulturvereine, Projekte und der Renovierung der abbruchreifen Wohngebäude. Denn die „Cités“ in ihrem heutigen desaströsen Zustand sind der ideale Nährboden für Gewalt, rivalisierende Banden und ein dermaßen hohes Aggressionspotential, dass manche Viertel von der Polizei gemieden werden, es bilden sich daher Subkulturen, Gangs, die ihr Gebiet fest in der Hand haben, Gangs, zusammengesetzt aus Jugendlichen ohne Perspektive, ohne Hoffnung, ohne Aufstiegsmöglichkeiten. In ihren Banden fühlen sie sich wohl, sie haben endlich Macht, sie können in ihrem Revier herrschen und es abgrenzen gegenüber „Fremden“.

Dies war auch einer der ausschlagenden Momente für die Krawallnächte, man konnte „denen da“ endlich zeigen: Wir sind wer, schaut, wie wir leben, schaut, was wir bewirken können, wenn wir in Rage sind. Leider ging auch dieser Schuss nach hinten los, die angezündeten Autos waren nämlich nicht jene der reichen, arroganten Franzosen, die man eigentlich auf die unmenschlichen Zustände in den Banlieues aufmerksam machen wollte, nein es waren die Wägen der eigenen Leute, für viele der einzige Luxus, oft jahrelang vom Mund abgespart, die dem jugendlichen, ungezügelten Zorn der Randalierer zum Opfer fielen. Auch die Vereine, Kindergärten, die den Flammen zum Opfer fielen, zeigen eines besonders deutlich: In ihrem lange unterdrückten Zorn gegen Diskriminierungen in dem Land, dessen Staatsbürger sie sind, in ihrer blinden Wut, schneiden sich diese Jugendlichen noch tiefer ins eigene Fleisch. Sie tun sich selbst nichts Gutes, wenn sie in ihren eigenen Vierteln genau die Dinge zerstören, die, auch wenn sie die Situation nicht ändern können, doch entscheidend die Lebensqualität der Bewohner der Trabantenstädte verbessern können. Die Befolgung der allgemein gültigen Maxime „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ hätte vielleicht zu einer anderen Reaktion der obersten Politkreise geführt und den Ernst der Lage drastischer zeigen können, aber die Strategie der brennenden Vorstädte führt unweigerlich zu einer Verschlimmerung der herrschenden Zustände, denn wer zerstört schon gerne das wenige, das er besitzt?

Eigenartigerweise waren die einzigen zu Diskussionen bereiten Ansprechpartner die lokalen Imame, die versuchten, eine Vermittlerrolle zwischen den randalierenden Halbwüchsigen und den hilflosen Politikern, die versuchen, ihre Unfähigkeit im Umgang mit dieser Ausnahmesituation durch harte Parolen zu überspielen, zu spielen. Beängstigend, jedoch als eine natürliche Gegenreaktion auf die jüngsten Ereignisse zu sehen, ist der enorme Zulauf, den der Front National zurzeit erlebt. Diese rechtsextreme Partei unter Jean-Marie le Pen nutzt gekonnt die Xenophobie und die Angst der Durchschnittsbevölkerung vor einer „Überfremdung“ der Grande Nation, um seiner Partei astronomische Umfragewerte gerade rechtzeitig vor der nächsten Präsidentschaftswahl zu sichern.

Alles in allem bleibt die zukünftige Entwicklung der gegenwärtigen Situation kritisch zu beobachten, denn das Problem der Zweit- und Drittgenerationen damaliger Immigranten betrifft ganz Europa und jeder Einzelne muss sich früher oder später einmal damit auseinandersetzen und seine eigene Einstellung überdenken, denn auch wir tragen eine gewisse Mitschuld an der fehlgeschlagenen Integrierung Zuwanderer.

paroles-racistes-en-banlieue

...

Le-Mepris

Gespannt steht sie auf der Terrasse, hinter ihr die endlos scheinende Fläche des Mittelmeeres, das blaue Nichts. Er beobachtet sie, unbeweglich steht sie da, als ob sie es wüsste, als ob sie seine Gegenwart spüren würde. Nicht meh lange, sagt er sich, nicht mehr lange, dann wird auch dieser Job vorbei sein, diese endlos langen Stunden auf der Lauer, diese Angst, die Beute entwischen zu lassen, er weiß, in absehbarer Zeit wird er wieder frei sein, nicht mehr ständig diese Angst mit sich herumtragen, diese Angst vor sich selbst, vor seiner eigenen Ohnmacht. Sie ist so wunderschön, alleine auf dieser Terrasse, alleine mit den Bergen, mit dem Meer, mit ihm. Bald gehört sie ihm. Ihm ganz allein, für immer. Er spürt die Aufregung in sich hochsteigen, bemerkt das Zittern seiner schweißnassen Hände, den Drang, es zu tun, nicht mehr zu warten, immer dieses Warten, dies kostbare Zeit zwischen den Fingern zerrinnen lassen. Er liebt die Jagd, die unmittelbare, letzte Phase der Verfolgung, wenn das Beutetier, behindert durch die Angst, die Panik, wild herumrennt, sich selbst in seiner Falle verstrickt und elendig zu Grunde geht. Er hat immer gerne gejagt, doch er hat etwas anderes gesucht, den Nervenkitzel, auch, vor allem aber die Panik in den Augen der Beute, diese letzte, finale Todesangst, dieses Wissen um die Ausweglosigkeit der eigenen Situation, dieses trotzige Kämpfen um das eigene Leben. All das hat ihn immer fasziniert. Er beginnt, sich an die letzte Jagd zu erinnern, um seine Nerven zu beruhigen und so merkt er nicht, dass er nicht mehr alleine ist im Wald, er merkt auch nicht, dass das Netz immer fester zugezogen wird und die Falle schließlich zuschnapt. Erst das nahe Geräusch einer Pistole bringt ihn zurück in die Wirklichkeit, ins Jetzt, lässt ihn erkennen, dass er einmal zu oft alles riskiert hat. Doch er wird nicht aufgeben, er wird rennen, um sein Leben, rennen, wie seine Beute rannte, rennen, rennen, rennen. er kommt nicht weit, ein glatter Kopfschuss lässt ihn zusammensacken, hart schlägt er auf einem Baumstumpf auf, zuckt noch ein letztes Mal mit den Lidern und schließt für immer seine Augen.

Ich fand es immer faszinierend, zu verstehen, warum jemand tötet, warum jemand ein gewisses Schema vornimmt, bei seinen Morden, warum jemand sich gezwungen fühlt, Leben auszulöschen.

"Immer muss ich durch die Straßen gehen und immer spür ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber! Manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe! Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! Muss, muss den Weg gehen, den es mich jagt! Muss rennen! Und mit mir rennen die Gespenster von Müttern, Kindern. Die geh'n nie mehr weg. Die sind immer da! Nur nicht, wenn ich's tue. Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe. Das habe ich getan? Aber davon weiß ich doch gar nichts! [...] Will nicht! Muss! Will nicht! Muss!"

["M - Eine Stadt sucht einen Mörder"]

Montag, 29. Mai 2006

...

Ich weiß, ich verhalte mich geradezu stiefmütterlich gegenüber diesem meinem Blog, ich habe einfach Angst, nur Schwachsinn zu schreiben, und bevor ich nur irgendwelche Blödheiten abliefere, lass ich es lieber gleich. Das ist feige, ich weiß es, aber so läufts halt. In nächster Zeit werde ich mich aber mal wieder dransetzen, versprochen.

Dienstag, 9. Mai 2006

- Anissa -

alter-elbtunnel

- Anissa -

Alles ist weiß. Klinisches, kaltes, abweisendes Weiß. Was mache ich nur hier? Warum sehe ich niemanden? Ich kann sie hören, viele bekannte, unbekannte Stimmen. Aber wo sind sie? Ich sehe nur das Weiß, es gefällt mir sogar.

Diese paradiesische Ruhe. Nach den Ereignissen der letzten Tage genau das Richtige. Wenn es nur nicht so hell wäre! Man kann sich ja nicht einmal irgendwo hinlegen, alles ist eine einzige weiße Fläche, nirgends ein Ort zum Ausruhen. Aber warum auch? Warum möchte ich mich eigentlich ausruhen? Ich spüre keine Müdigkeit mehr, was ist denn nur auf einmal mit meinem Körper los?! Da! Ein Punkt irgendwo am Horizont. Langsam, nur nichts überstürzen, wer weiß, was es ist. Aber der Punkt kommt nicht näher. Er wird nicht größer, fast so, als mache er sich über mich lustig. Und warum gibt es hier niemanden außer der weißen Fläche, dem Punkt und mir?

Ehrlich, ich weiß nichts mehr, ich kann mich nur noch an den Film erinnern, den Film, der vor mir abgelaufen ist. Bis zum Filmriss. Alles ging durcheinander. Man sagt, wenn du stirbst, läuft dein ganzes Leben vor deinem inneren Auge ab. Ich habe nicht mein Leben gesehen, doch, eigentlich schon meines, aber nicht nur mein bisheriges. Ich habe mich mit meinen Enkeln im Garten sitzen gesehen, mit meinen Kindern im Urlaub am Meer, meinen Rauswurf aus der Firma, Dinge, die nie passiert sind, Dinge, die vermutlich nie geschehen werden, wenn ich wirklich tot bin. Aber bin ich das wirklich? Es wäre doch die reinste Verschwendung, mir Teile meines unfertigen Lebens zu zeigen, die ich nie erleben werde.

Und überhaupt, wie kannst du mir so etwas nur antun? Du kannst mir nicht Dinge zeigen, die ich nie erleben werde, du kannst mich nicht foltern und strafen für etwas, das nicht meine Schuld war! Bitte Gott, denk von mir, was du willst, aber ich will wissen, ob das alles war. 20 mickrige Jahre und den Bonus von 3 Monaten. Das kann es doch nicht gewesen sein! Nein! Ich werde nicht auf den Punkt zugehen! Nein, ich werde nicht das tun, was ich instinktiv am liebsten tun würde. Nein! Nein! Nein! Muss ich jetzt im Ernst dafür bezahlen, dass zur falschen Zeit an der falschen Straßenecke gestanden bin? Muss ich jetzt ewig in dieser weißen Wüste bleiben? Bitte sag mir, dass es nicht so ist, bitte sag mir, alles wird wieder gut, es ist nur ein böser Traum, du wirst aufwachen, einen Kaffee trinken und dich an nichts mehr erinnern. Bitte sag mir, dass ich mit meinen Enkelkindern im Garten sitzen werde, meinen toten Hund beweine, meine beste Freundin verliere, Urlaub am Meer mache. Lass mich nicht im Stich! Nicht jetzt! Nicht, nachdem ich die meine Zukunft gesehen habe! Bitte.

„Anissa, wach auf, mein Kleines. Gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst, ein Zeichen, dass du noch nicht völlig weggegangen bist. Komm zurück. Bitte.“

Wie ich es damals geschfft habe, zurückzukommen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht meine Bestimmung war, zu sterben. Ich hatte noch einen ganzen Filmstreifen zur Verfügung.

[Diesen Monolog habe ich für jemanden aufgeschrieben, der mir seine Geschichte erzählt hat. Eine Geschichte, die nicht immer schön war, mich aber im Innersten berührt hat. Ich hoffe, es wird dieser Person gerecht.]

Montag, 8. Mai 2006

Lackenbach

Dann fang ich auch gleich damit an, eins meiner literarischen Meisterwerke in die Welt zu werfen.



Sie hat es geschafft. In der Ferne liegen noch die verhassten Gebäude im Frühnebel dieses kalten Novembermorgens. Hinter ihr: drei Jahre sinnlosen Leidens, zwei tote Kinder und unzählige körperliche und seelische Narben. Vor ihr: eine bessere Zukunft? Sie wird es schaffen, sie wiederholt es immer und immer wieder, dieses Mantra, das sie die letzten drei Jahre am Leben erhalten hat: „Ich schaffe es, ich schaffe es“ mit der Hoffnung, dass der Schmerz irgendwann einmal nachlässt. Sie weiß, sie würde noch einmal drei Jahre durchhalten, wenn sie nur ihre Kinder wieder lebend zurückhaben könnte, sie würde bis zum Jüngsten Gericht im Lager schuften.

Duška war doch erst zwei Jahre alt gewesen. Zwei Jahre! Eiskalt vergast im Lager von Männern und Frauen, die am Ende des Tages heimkehren konnten zu ihrer eigenen Familie und welche untertags unzählige Familien willkürlich auseinander rissen. Janoš war acht Jahre alt geworden, seine angsterfüllten Augen hatten ihr verraten, dass er genau wusste, was passieren würde, diese dunkle Vorahnung in den weitaufgerissenen Kinderaugen hatten ihr das Herz zerrissen, in tausende kleine Fetzen, die niemals wieder aneinandergefügt werden. Damals hatte sie aufgehört zu existieren. Sie wurde zur Nummer 5975. Innerlich war sie in dem Moment gestorben, als man ihr die Kinder entrissen hatte, mit dem letzten Blick Janoš’, mit den ausweichenden Blicken auf ihre Fragen nach den Kindern.

Ihr Gang wird schwerer, jeder Schritt ist eine Qual und trotzdem wird sie immer schneller, versucht, den Bildern in ihrem Kopf zu entkommen, Bilder aus glücklicheren Zeiten, damals, vor der Erschießung ihres Mannes in einem kleinen Steinbruch, zusammen mit 20 anderen Männern, warum, das weiß sie nicht. Damals, bevor die Deutschen kamen und ihre Älteste vergewaltigten, vor den Augen des ganzen Dorfes, die Jungmänner johlten, feuerten die Soldaten noch an „zeigt der Zigeunerbraut wo’s langgeht!“, sie hört die Stimmen immer noch, als ob es gestern wäre. Sie rennt durch die gefrorenen Felder, um den Erinnerungen zu entfliehen, doch sie holen sie immer wieder ein, treffen sie mit enormer Wucht, drücken sie gegen den Boden, sie steht auf, kämpft sich weiter durch die karge Landschaft, fällt wieder, rappelt sich wieder auf, sieht den leblosen Ausdruck ihrer Großen vor sich, das weiße Gesicht, das strähnige schwarze Haar über den starren, toten Augen, die Blutlache, in der ihr schmaler Körper lag, sie rennt und rennt, die Tränen fließen über ihre ausgemergelten Backenknochen, sie kann nicht mehr.

Sie legt sich unter einen Baum, versucht, sich aufzuraffen für die nächste Wegstrecke, der nächste Ort konnte nicht mehr weit sein, aber was dann? Man wird sie erkennen, das weiß sie, jeder hier in der Gegend kennt das Lager, sie ist ausgemergelt, trägt zerrissene, zerfetzte Kleidung und spricht einen anderen Dialekt als die einheimische Bevölkerung. Man wird sie zurückbringen ins Lager, wo sie im besten Fall weiterschuften „darf“, oder man lyncht sie gleich auf dem Dorfplatz, vor der jubelnden Menge. Sie schafft es nicht mehr, aufzustehen, ihre Beine tragen sie nicht mehr, sie ist total geschwächt, im Fieberwahn spricht sie mit ihren Kindern, mit ihrem Mann, erzählt sich selbst Geschichten aus schönen Tagen, als sie ihren Mann kennen lernte, ein Musiker auf dem Jahrmarkt, ein Mann mit schönen, feinen Händen, unfähig, zu töten oder gewalttätig zu werden. Das letzte, was sie sieht, ist ihre Familie am letzten gemeinsamen Weihnachtsabend, dann schließt sie vor Erschöpfung ihre Augen. Für immer.

Am Morgen des 30.Novembers findet Adalbert Maurer auf dem Weg ins Lager zur „Arbeit“ eine etwa 35 Jahre alte Lagerinsassin tot auf der Strecke zwischen Lackenbach und Haschendorf.

Claire Benque

Auf ein Neues !

Ok, ich gebe es offen zu, ein Blog [hier] würde locker reichen für mich. Tut er aber nicht. Weil ... so sehr ich es liebe, Texte, Lyrics, Gedichte, etc. von anderen zu klauen (die um einiges besser schreiben als ich), auch ich muss einmal zeigen können, was ich so alles draufhabe. ;)

Die Blogosphäre ist somit offiziell um einen weiteren Schmierfink "reicher" geworden.

Viel Spaß !

Claire

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